Richard Schlesinger war Großmeister der Großloge von Wien von 1919 bis 1938. Er erlebte und gestaltete deren Aufstieg nach dem Ersten Weltkrieg von gut tausend auf 1.900 Mitglieder in 24 Logen im Jahr 1932; das war der Höhepunkt. Ebenso erlitt er im März 1938 beim Nazi-Einmarsch ihr abruptes Ende, das der Gebrochene nur drei Monate überlebte.
Von Rudi Rabe
Dieser Rückblick ist notwendig, wenn man die österreichische Freimaurerei der Zwischenkriegszeit, ja sogar auch der Gegenwart verstehen will. Das habsburgische Vielvölkerreich war damals nach Russland der zweitgrößte Staat Europas. Im späten 18. Jahrhundert hatte die Freimaurerei hier eine Hochzeit. Doch Kaiser Franz verbot 1794 unter dem Eindruck der Französischen Revolution für die ganze Habsburgermonarchie alles was nach Freiheit roch, also auch die Logen. Dieses Verbot galt bis zur Teilung in eine Doppelmonarchie 1867: Jetzt wurde die Freimaurerei in Ungarn erlaubt, in der österreichischen Reichshälfte blieb sie untersagt. Die findigen Wiener fanden einen Ausweg: ‚Grenzlogen‘ im 70 Kilometer entfernten Ungarn unter dem Schirm der neu gegründeten ungarischen Großloge. In Wien waren diese Logen als Kultur- und Sozialvereine tätig.
Noch einmal verstrich ein halbes Jahrhundert bis der Habsburgerstaat Ende 1918 als Folge des verlorenen Ersten Weltkriegs zusammenbrach. Sofort zogen die Grenzlogen – vierzehn waren es inzwischen – nach Wien. Eine Großloge wurde gegründet und zum erstenmal ein österreichischer Großmeister gewählt: Richard Schlesinger. Feierliche Einsetzung am 1. Juni 1919 bei einer Festarbeit mit 600 Teilnehmern.
Wer war Richard Schlesinger?
Bei seiner Wahl war er 57 Jahre alt, seit 1909 Mitglied der Grenzloge Zukunft, angesehener Hof- und Gerichtsadvokat sowie Mitglied des Obersten Gerichtshofes, Sohn einer Beamtentochter und eines durch die Wirtschaftskrise 1873 verarmten jüdischen Kaufmanns, der bald nach der Krise starb. Richard musste daher ab dem fünfzehnten Lebensjahr seine Mutter und einen Bruder durch Nachhilfestunden durchbringen. Ein paar Jahre später heiratete er Luise, die Schwester eines Freundes, ein Sohn kam, eine glückliche Familie: Auskommen, Ansehen, Hausmusik, eine bürgerliche Idylle … bis der Erste Weltkrieg alles zerstörte: Seit langem ohne Nachricht von Sohn Hans an der Front nahm sich Luise Mitte 1918 das Leben und Richard fiel in eine tiefes seelisches Loch; auch er war jetzt suizidgefährdet. Doch Hans kam bei Kriegsende zurück, sein Vater erholte sich und ging nach und nach in der königlichen Kunst auf.
„Ein unbeschriebenes Blatt“
Als er zum Großmeister gewählt wurde war Schlesinger – so schreibt die ‚Wiener Freimaurerzeitung‘ 1936 zu seinem 75. Geburtstag – „noch ein freimaurerisch unbeschriebenes Blatt und über die Grenzen seiner Loge ‚Zukunft‘ hinaus kaum bekannt, doch bei allen, die ihn kannten, bei Kollegen und Klienten hoher Wertschätzung und unbedingten Vertrauens sich erfreuend.“ Den „Allgeliebten“ nennt ihn die Zeitung, und das nach inzwischen immerhin 17 (!) Jahren Amtsführung: „Möge unserem allverehrten Großmeister … ein gütiges Geschick noch eine schöne, sorgenfreie, freudvolle Zukunft bescheren. Uns aber möge es beschieden sein, noch viele, viele Jahre seiner gütigen und weisen Führung … in eine bessere, lichtere Zukunft folgen zu dürfen.“
Es tut richtig weh, das als Nachgeborener zu lesen, wissend welche Barbarei nur zwei Jahre später über die österreichische Freimaurerei und das Land und schließlich über die Welt hereinbrach. In der Hoffnung auf „eine bessere, lichtere Zukunft“ waren Ahnungen des kommenden Unheils wohl schon verpackt.
Antrittsrede: Not und Elend
Zurück ins verarmte Nachkriegswien. Im Vordergrund standen auch für die neu gegründete Großloge die basalen menschlichen Bedürfnisse: Essen, Kleidung, Wohnen. „Die Welt ist wie verwaist, die Tage schleichen wie mit gebrochenen Gelenken weiter.“ Dieser Satz aus Richard Schlesingers Antrittsrede Anfang 1919 gibt wenige Monate nach Kriegsende die Stimmung wieder. Um „hungrige Mäuler zu stopfen, das Siechtum einzudämmen, entkräfteten Menschen Rettung zu bringen“ appellierte er „an die Bauhütten der neutralen Länder, vielleicht auch an einige der bisher feindlichen Staaten um Hilfe.“
Der Großmeister schrieb Bettelbriefe an alle europäischen Großlogen, und er hatte Erfolg, wie er später wieder in einer Rede berichten konnte: „Besonders Holland und die Schweiz (beide waren nicht am Krieg beteiligt gewesen) überboten sich an Liebesbeweisen.“ Die holländischen Freimaurer zum Beispiel indem sie Wiener Kinder in Kost nahmen und sie aufpäppelten. „Es fanden sich auch sieben holländische Brüder, die sich das Wort gaben, sich für ein Jahr des Trinkens und Rauchens zu enthalten und das dadurch ersparte Geld den hungernden Wienern zukommen zu lassen“, erzählte Schlesinger gerührt.
Schlesinger: „Fortschrittliche Freimaurerei“ ist politisch
Die österreichische Freimaurerei der Zwischenkriegszeit war vor allem in den zwanziger Jahren nach außen präsenter und politischer als sie es heute ist. Auch darauf geht Schlesinger in seiner Antrittsrede als „eine der schwierigsten Fragen“ ein indem er den Großmeister der Großloge von Bayreuth August Paret zitiert, der meinte, „heute dürfe die Freimaurerei nicht mehr im Verborgenen bleiben, sie habe das Recht und die Pflicht, ihre Meinung zu den Fragen der Zeit zu äußern.“
„Dieser Gedanke ist sicherlich richtig“, stimmt Schlesinger zu. Denn „es ließe sich unmöglich ein Fortschritt in unseren Arbeiten denken, wollten wir fernerhin die Fragen der Politik, die ja heute im Wesentlichen soziale Politik ist, aus den Bauhütten ausschalten. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass in den Logen Parteipolitik getrieben werden dürfe.“ Allerdings „wird es bei dieser Art unserer Betätigung nicht fehlen, dass sich unsere Gegner noch mehr, als es bisher der Fall war, mit uns und mit unserem Wirken beschäftigen. Allein dies darf selbstverständlich für uns kein Hindernis sein, uns aktiv an den Fragen der Politik zu beteiligen.“ „Im besten Sinn fortschrittliche Maurerei“ nennt das Schlesinger schließlich, und er legt damit den Grundstein für die aktiv-politische Haltung der österreichischen Freimaurerei in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.
Für Pazifismus und Pan Europa
Wie die Hoffnung auf soziale Hilfe, die schließlich eintraf, hatte Richard Schlesinger in seiner Antrittsrede auch die Hoffnung auf faire Friedensverträge für die Verliererstaaten geäußert. Das wurde nicht erfüllt. Die österreichischen und die deutschen Freimaurer zogen daraus jedoch gegensätzliche Schlüsse: Die deutschen schotteten sich gegenüber dem Ausland ab, zu den Freimaurern der Siegerstaaten – vor allem den Franzosen – blieben sie feindlich eingestellt, und sie wurden schließlich immer nationalistischer und in Teilen antisemitisch.
Anders die Österreicher: Sie öffneten sich von Anfang an zum Ausland, auch den ehemaligen Feindsstaaten. Und der Pazifismus wurde Richard Schlesinger ein großes Anliegen: „Friede nach innen und nach außen“ war sein Leitmotiv. Immerhin hatten die Österreicher mit dem 1921 verstorbenen Alfred Hermann Fried auch einen Friedensnobelpreisträger in ihren Reihen. Bei der Zehnjahresfeier 1928 charakterisierte der Großmeister das Bewusstsein seiner Großloge so: „Die Ausscheidung eines jeden Nationalhasses, die Unbekümmertheit um religiöses oder politisches Bekenntnis, vielleicht auch das geringe Verständnis für manche anderen Ortes mehr gepflegten freimaurischen Disziplinen, wie etwas für Fragen der Regularität, des Sprengelrechtes und dergleichen, endlich die vollkommene Verständnislosigkeit für Dogmatismus, ist wohl in keiner Bruderkette so ausgebildet wie in der österreichischen.“
Darüber hinaus unterstützten die Wiener Freimaurer die damals sehr frühen europäischen Einigungsideen des österreichischen Schriftstellers und Freimaurers Richard Coudenhove-Kalergie, Gründer der Paneuropa-Union, der ältesten Bewegung dieser Art. Mit einer leidenschaftliche Begrüßungsadresse, abgedruckt auf der Seite 1 der ‚Wiener Freimaurerzeitung‘, empfing Schlesinger 1926 die Teilnehmer des ersten Paneuropa-Kongresses in Wien.
Zerwürfnis mit den deutschen Freimaurern
All das führte zu einem immer tieferen Graben zwischen den deutschen und den österreichischen Freimaurern. Schon nach der Gründung der Wiener Großloge gehörten die deutschen Großlogen zu den letzten, die mit ihr geordnete Beziehungen aufnahmen: erst 1921; manche sehr zögerlich. Und nach einem halben Jahrzehnt begannen die deutschen, ihre Kontakte zu Wien wieder zu reduzieren und nach und nach abzubrechen: die Große Landesloge schon 1926. Zu „international“ und zu „jüdisch“ sei die österreichische Freimaurerei, beklagte 1931 der Deutsche Großlogenbund, immerhin die Sammelbewegung der humanitären (!) Freimaurerminderheit in Deutschland, als er die Beziehungen sistierte und kurze Zeit später abbrach. Formaler Anlass war die österreichische Unterstützung und Anerkennung der von Leo Müffelmann 1930 gegründeten ‚Symbolischen Großloge von Deutschland‘. Im Gegensatz zu den anderen deutschen Großlogen verfolgte diese wie die Wiener einen international offenen und pazifistischen Kurs.
Richard Schlesinger schmerzte die Abbruchwelle, aber die Österreicher änderten ihre Linie nicht. Mit großem Bedauern aber auch mit „wir sind stolz darauf, andere Wege zu gehen“, reagierte er ebenso betroffen wie selbstbewusst auf den Abbruch durch die Humanitären. Und das ausgerechnet im Jahr 1931, als die Wiener endlich auch von der wählerischen UGL – der United Grand Lodge of England – anerkannt wurden.
1.900 Mitglieder und 24 Logen gehörten 1932 zur Großloge von Wien: der Höhepunkt in dieser wetterwendischen Zwischenkriegszeit, die nur wenige gute Jahre hatte.
Die dunklen Kräfte siegten zuerst in Deutschland …
Die jahrelangen Auseinandersetzungen mit den deutschen Brüdern waren nur die Vorboten für das schreckliche Ende beider: zuerst der deutschen und fünf Jahre später auch der österreichischen Freimaurer. Noch vier Monate vor Hitlers Machtergreifung stellte Schlesinger im September 1932 in einem offenen (!) Brief an die ‚Großloge Zur Sonne‘ in Bayreuth die österreichische Positionen noch einmal klar. Und er warnte die Deutschen eindringlich vor der gängigen Illusion, sie könnten die Nazis durch Nationalismus und Antisemitismus gütig stimmen. Er behielt recht. Nachdem Hitler im Januar 1933 die Staatsgewalt übernommen hatte, war das Ende der deutschen Freimaurerei besiegelt: auf die Anpassung folgten Enteignung und Verbot. Die ersten Logen schlossen 1933, die letzten 1935: trotz weitestgehender Anpassung vor allem der drei Altpreussen.
… und dann auch in Österreich
Den Österreichern gewährte das Schicksal noch eine Galgenfrist. Es gab kein Verbot: Das wird heute so gedeutet, dass es sich der von Hitler bedrohte österreichische Bundeskanzler Dollfuß mit den Westmächten nicht verscherzen wollte; und er glaubte offenbar, dazu gehöre auch, die ungeliebten Freimaurer nicht zu verbieten.
Engelbert Dollfuß wurde 1934 bei einem Naziputschversuch ermordet. Der klein gewordene österreichische Staat fühlte sich vom großen Nazinachbarn im Norden und von inneren Gegnern immer mehr bedroht. Und so wurde es für die loyal zu Österreich stehenden Freimaurer unter Kurt Schuschnigg besser.
Und am 12. März 1938 war es mit dem Einmarsch Hitlers dann endgültig vorbei. Und zwar sofort: Schon am 13. März begann ein Freimaurer-Sonderkommando der SS aus Berlin mit Verhaftungen führender Freimaurer und der Beschlagnahme aller Logenbesitztümer. Die Verhöre zogen sich über Wochen. Manche Freimaurer konnten emigrieren, andere wurden von den Nazis später in den Konzentrationslagern ermordet.
Ebenfalls am 13. März erschienen sechs Beamte beim schwer erkrankten und vor kurzem an der Prostata operierten Schlesinger und befahlen ihm, das Vermögen der Großloge zu übergeben. Der kaum mehr aktionsfähige Großmeister delegierte das an seinen Großsekretär Wladimir Misar. Doch es blieb nicht mehr viel zu tun. Der Eigentümer des gemieteten Logenhauses, ein Parteimitglied, hatte Gestapo-Beamten bereits alle Türen geöffnet, wodurch eine formelle Übergabe überflüssig wurde. Am 16. März wurden Schlesinger und sein Sohn verhaftet und in einer überfüllten Zelle eingesperrt: fast nichts zu essen, Hygiene katastrophal, keine medizinische Betreuung. In wenigen Tagen brach Schlesinger völlig zusammen.
Durch die Intervention eines einflussreichen Nazi-Juristen und nach Hinterlegung einer hohen Kaution konnte der Fiebernde in ein Krankenhaus überstellt werden, wo er aber abgeschottet blieb: Nicht einmal sein Hausarzt durfte ihn besuchen. Es ging immer weiter bergab, eine Lungenentzündung kam hinzu, seine Bitte, ihn zu Hause sterben zu lassen, wurde nicht erfüllt.
Der 5. Juni war Richard Schlesingers letzter Tag. An der Beisetzung durften nur der Sohn und dessen Frau sowie die beiden Hausangestellten teilnehmen. ‚Der Stürmer‘ – das Hetzblatt der Nazis – verspottete die Freimaurer und Schlesinger, ohne dessen Tod zu erwähnen, mit einem in der Haft aufgenommenen Foto und folgenden Zeilen: „Der letzte Großmeister … war der Judenbastard Dr. Schlesinger. … Die Ziele der Freimaurerei sind die gleichen wie die Ziele des Marxismus: die jüdische Weltherrschaft.“
Doch Hitler hatte nicht das letzte Wort
„Das war das Ende eines Mannes, der unsere königliche Kunst so unendlich geliebt und die Treue zu ihr in seinem Märtyrertod besiegelt hat.“ Mit diesen Worten schloss Oskar Böhm, der Neffe Schlesingers, sieben Jahre später in der neugegründeten Sammelloge ‚Humanitas Renata‘ seine Trauerrede.
In einer Trauerarbeit gedachte das übrig gebliebene Häuflein Wiener Freimaurer am 20. Oktober 1945 ihres verdienten Großmeisters. 43 Brüder waren schon Ende Juli, drei Monate nach Kriegsende, wieder zusammen gekommen.
Richard Schlesinger ruht gemeinsam mit seiner Frau Louise und seinem Sohn Hans, der nach Amerika emigrieren konnte und sich dort John R. Schlesinger nannte, am Wiener Zentralfriedhof.
Richard Schlesinger: „Unsere Einstellung zu den maurerischen Gegenwartsfragen“
Aus einer Rede des Großmeisters vor den Wiener Logen am 6. Dezember 1926.
Diese Rede ist vielleicht die Programmatischste, die Schlesinger gehalten hat: 1926, in einer Zeit, als die ärgste Nachkriegsnot bewältigt und das kommende Unheil höchstens für sehr sensible Geister schon zu spüren war. Schlesinger schneidet alles Mögliche an. Ich greife einige Punkte heraus: Konturierte Festlegungen des Großmeisters zu strittigen Themen, welche die Freimaurer auch heute noch beschäftigen. Sie zeigen, wie mutig Schlesinger Grundsätzliches mit Lebensnähe verband: Ein ängstlicher Kleingeist war er ganz und gar nicht.
Zu oft nach den Sternen gegriffen!
Gleich am Anfang der Rede: „Ich gestehe ganz offen, dass wir, seitdem die junge Großloge von Wien ins Leben getreten ist, viel zu oft nach den Sternen gelangt haben und dabei notwendigerweise Gefahr gelaufen sind, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wir hätten uns an das alte Goethewort erinnern sollen, dass man die Sterne nicht begehren, sondern dass man zufrieden sein soll, sich ihrer Pracht freuen zu dürfen.“ Schlesinger nennt seinen Redebeginn ein „pater peccavi“, ein Schuldbekenntnis. Und er empfiehlt, daraus folgende Lehren zu ziehen: Praktischer sein! Uns immer fragen, was wir leisten können! Offenbar wollte der Großmeister mit seinem Appell depressive Anwandlungen abfangen, die aufgetreten waren, weil sich die großen gesellschaftlichen Heilserwartungen nach dem Zusammenbruch der alten Mächte nicht erfüllt hatten.
Betätigung der Großloge und der Logen nach außen?
Das „hat in meiner Denkungsart im Laufe der Zeit … einige Wandlungen erfahren. Sooft wir den Versuch machten, … eine derartige Außenarbeit zu unternehmen, haben wir die Erfahrung gemacht, dass draußen Organisationen tätig sind, gegen welche die unsrige eine lächerlich verschwindende Kleinigkeit ist. Und es fragt sich, ob es einerseits der Würde der Loge oder der Großloge entspricht und ob andererseits mit den vorhandenen Mitteln so viel geleistet werden kann, dass wir mit diesen Organisationen in Konkurrenz treten können … oder ob diese Außenarbeit nicht Sache jedes einzelnen Bruders sein und bleiben soll.“ Dies „setzt voraus, dass ein gewisser bürgerlicher Heroismus in unseren Reihen Platz greift. Das ist ein heikler Punkt. Ich verstehe darunter, dass der Bruder den Mut hat, sich als Freimaurer auch nach außen zu bekennen.“ Wiewohl man das auch wiederum nicht von jedem verlangen könne, relativiert Schlesinger dann seinen Gedanken wieder.
Es gibt verschiedene masonische Wege.
Offenbar beobachteten damals viele ältere Brüder bei den Jüngeren einen „Hang zum Quietismus“, weil die Jungen pragmatischer waren und weniger hochfliegende Vorstellungen von der Erneuerung der Gesellschaft hatten. Schlesinger verteidigt die Jungen, und er schließt damit gedanklich an die eingangs ausgesprochene Warnung vor dem Griff nach den Sternen und dem Verlust der Bodenhaftung an. Die Jungen wollten sich keineswegs „hinter geistigen Klostermauern verstecken.“ Jeder Bruder kann, „mag er seinem freimaurerischen Leben welchen Inhalt immer geben, uns ein treuer Helfer sein.“
Wer kann Freimaurer werden?
Was ist zum Beispiel ein ‚guter Ruf‘? Der erfahrene Rechtsanwalt möchte, „dass aus unseren Fragebögen die Frage, ob der Suchende sich nie einer unehrenhaften Handlung schuldig gemacht habe, ausgeschaltet werde.“ Nie würde es ihm einfallen, sagt er, einem einmal im Leben gestrauchelten „Manne dauernd meine Achtung zu versagen.“ Es sei „die größte Überhebung, deren sich ein Menschenbund schuldig macht, wenn er jemandem, weil er vor Jahren im jugendlichen Ungestüm eine Torheit begangen hat, den Zutritt versagen würde.“ Die Frage sei außerdem unwürdig: Der gewissenhafte und daher „wertvolle Suchende“ wird die Fragen bejahen und „auf seine Aufnahme verzichten, der andere, weniger Skrupulöse wird sie ruhig verneinen und so mit einer Lüge in unseren Bund treten.“
Gegen Intelligenzdünkel und Starkult.
Schlesinger ist gegen das Suchen nach Stars, und zwar wegen der „mit dem Starsystem verbundenen Unannehmlichkeiten, die sich in den Logen nicht anders als in der profanen Welt zeigen“ und „weil es die größte Ehre für den Suchenden sein muss, der Kette angehören zu dürfen.“ „Es gibt in der Welt so unendlich viele brave, anständige Menschen von lauterstem Charakter, von denen wir in den Logen nichts zu sehen und zu hören bekommen, weil diejenigen Brüder, die als Bürgen in Betracht kommen, sich nicht getrauen, sie unseren Reihen zuzuführen, hauptsächlich aus Angst, der Betreffende sei des gesprochenen oder geschriebenen Wortes nicht in der nötigen Weise mächtig.“ Schlesinger warnt vor „Intelligenzdünkel“ und appelliert an seine Brüder, Männer aufzunehmen, die „reinen Herzens zu uns kommen.“
Weibliche Freimaurer?
Auch das schneidet der Großmeister in seiner Programmrede 1926 überraschend an. Er glaubt „zwar nicht, dass heute schon ein Bedürfnis besteht, Frauen in unsere Reihen aufzunehmen. Was ich aber bedaure, ist, dass wir – gefesselt durch internationale Verpflichtungen – nicht einmal imstande sind, uns zu erkundigen, wie es in dieser Loge aussieht (gemeint: der Wiener Droit Humain mit Frauen und Männern), und dass, wenn wir es tun, wir ein Verbot verletzen, das die Großloge von Wien in Übereinstimmung mit ihren internationalen Verpflichtungen erlassen musste. … Die Frage verdient, anders als es bisher geschehen ist, in unseren Logen behandelt zu werden. Mit allgemeinen Redensarten und mit Späßen kann sie nicht erledigt werden.“
Klein bleiben oder weiter wachsen?
„Es gibt in unserer Mitte eine ganze Reihe von gewichtigen Stimmen, die nicht wünschen, dass die Zahl der Brüder wachse. Ich glaube, dass diese Brüder mit den österreichischen Verhältnissen nicht hinlänglich vertraut sind, den es ist keine Phrase, was ich jetzt ausspreche: Wenn es ein Land gibt, in dem es notwendig ist, dass die Freimaurerei gewaltig und mächtig sei, ist es Österreich (Zustimmung). Denn leider ist die Verpöbelung der Sitten in unserem armen Land sehr weit fortgeschritten. Der Parteikampf hat hier Formen angenommen, die nicht nur den intellektuellen, sondern jeden anständigen Menschen schrecken müssen, und da wäre es gut, wenn der freimaurerische Gedanke endlich ganz Österreich, wie die Gegner sich ausdrücken, ‚durchseuchte‘.“
Großmeister der Großloge von Wien von 1919 bis 1938.
Von Marcus G. Patka
Die erste Zusammenkunft österreichischer Freimaurer nach dem Zweiten Weltkrieg fand am 28. Juli 1945 im Logenhaus in der Dorotheergasse 12 statt, gekommen waren nur 48 Brüder verschiedener Logen. Zu Beginn gedachte der Vorsitzende und spätere Großmeister Dr. Karl Doppler des verstorbenen Großmeisters Dr. Richard Schlesinger und kündigte an, dass die erste rituelle Arbeit eine Trauerarbeit für alle in der Zwischenzeit verstorbenen Brüder sein werde. Diese fand am 20. Oktober 1945 statt.
Das Ende
Über den Tod Richard Schlesingers berichtete retrospektiv sein Sohn Hans, dieser war 1938 in die Schweiz geflüchtet und von dort weiter in die USA, wo er eine kleine Anstellung in der Stadtbibliothek von St. Louis, Missouri, fand:
„Am 16. März 1938 wurden mein Vater und ich in der Frühe von der Gestapo verhaftet – er in seiner Wohnung und ich in meiner. Beide wurden wir eingekerkert. Anfangs 1938 hatte mein Vater sich einer chirurgischen Operation unterziehen müssen und hatte noch ärztliche Betreuung notwendig, die ihm im Gefängnis fehlte. Er war nicht imstande, seine Kleider zu wechseln, da die Zelle so überfüllt war. Es war zwar eine Toilette in seiner Zeile vorhanden, aber keine Möglichkeit, sie rein zuhalten. Die Nahrung war schrecklich und bestand aus fast nichts. In wenigen Tagen brach er zusammen. Meine Mutter war im Jahre 1918 gestorben und so unternahm es meine Frau, einen einflussreichen Nazi-Rechtsanwalt zu finden, welcher (mit einem Gestapo-Mann) in die Zelle meines Vaters ging. Als sie seinen jämmerlichen Zustand sahen, durfte er nach Erlag einer hohen Kaution in einem Krankenwagen der Gestapo in ein Spital gebracht werden, doch wurde ihm nicht gestattet, Verbindung mit der Außenwelt aufzunehmen. Bemühungen, ihm eine private Pflegerin beizustellen, blieben ohne Erfolg. Selbst sein alter Hausarzt durfte ihn nicht besuchen. Aber die physischen Strapazen des Gefängnisses, seine Behandlung als Verbrecher und Gefangenen, das Schicksal seines geliebten Landes und der Brüderschaft und die Verfügung der Gestapo, dass ich das Land verlassen müsse, brachen seine letzten Kräfte. Er starb am 5. Juni 1938 an Pneumonie. Frau Schlesinger eilte zur Gestapo, als sie merkte, dass es mit ihm zu Ende gehe, um für mich die Erlaubnis zu erwirken, ihn noch einmal zu sehen. Als Antwort drohte man ihr noch mit dem Gefängnis.“
Das NS-Hetzblatt „Der Stürmer“ höhnte Schlesinger noch hinterher, indem es ihn als „Jude“ diffamierte und ein offensichtlich in der Haft aufgenommenes Foto abdruckte, ohne jedoch dessen Tod zu erwähnen. Dazu kam noch ein Foto des Großen Tempels in der Dorotheergasse 12 und ein Artikel, in dem es heißt:
„Aber auch auf der sogenannten ‚bürgerlichen’ Seite gab es eine von Juden dirigierte Organisation. Die Freimaurerei. Hohe Beamte, Offiziere, Rechtsanwälte, Ingenieure, Industrielle, Theaterdirektoren usw. wurden in die Logen eingeladen. Bald waren sie gefangen und eingenebelt von der jüdisch-freimaurerischen Idee. Die Freimaurerlogen in Wien, von denen es ein paar Dutzend gab, waren total verjudet. Auch die sogenannten ‚christlichen’ Logen wimmelten von Juden. Der letzte Großmeister der ‚christlichen’ ‚Großloge von Wien’ war der Judenbastard Dr. Schlesinger. Ein würdiger Vorsitzender einer freimaurerischen Zuhörerschaft, die zur Hälfte aus Juden, zur Hälfte aus Nichtjuden bestand./ Wie die Ziele der Freimaurerei heißen, das schreibt der Wiener Gelehrte Dr. Friedrich Wichtl in seinem Buch: ‚Weltfreimaurerei – Weltrevolution – Weltrepublik’. Gegen Wichtl wurden wegen der Herausgabe dieses Buches wiederholt Mordanschläge ausgeübt. Die Ziele der Freimaurerei sind die Gleichen, wie die Ziele des Marxismus: Die jüdische Weltherrschaft.“
Der Großmeister
Dr. Richard Anton Schlesinger war vom 31. Mai 1919 bis zu seinem Todestag am 5. Juni 1938 Großmeister, er hat eine Epoche geprägt. Dennoch ist unser Wissen über ihn gering, solange das Archiv der Großloge von Wien (GLvW) noch im Moskauer Sonderarchiv liegt. Zu den wenigen vorhandenen Quellen gehören seine Ansprachen, die in der „Wiener Freimaurerzeitung“ abgedruckt wurden.
Geboren wurde er am 19. Dezember 1861 in Wien I. und eine Woche später bei den Schotten römisch-katholisch getauft. Sein Vater Karl Schlesinger stammte aus einer angesehenen jüdischen Familie Budapests und war vor seiner Hochzeit 1850 zum Katholizismus konvertiert. Dennoch galt Richard Schlesinger für das NS-Regime als „Jude“.
Nach dem Jura-Studium arbeitete Richard Schlesinger als Hof- und Gerichtsadvokat, bald trug er den Titel eines Regierungsrats, zudem war er Mitglied der Steuerschätzungskommission und später Richter am Obersten Gerichtshof. Der Deutsche Ritterorden in Wien ließ sich von ihm juristisch vertreten. Dem „Kodek“ entnehmen wir, dass Schlesinger 1909 in die Grenzloge Zukunft aufgenommen und 1911 erhoben wurde. Das Amt eines Stuhlmeisters hat er nie ausgeübt. In seiner Zeit als Großmeister machten ihn viele Wiener Logen zum Ehrenmitglied, ebenso die deutschsprachige Großloge „Lessing zu den drei Ringen“ in Prag und die Symbolische Großloge von Deutschland. Am 1. Dezember 1923 wurde auch sein 1892 geborener Sohn Hans in die Loge „Zukunft“ aufgenommen, der er von 1933 bis 1935 als Stuhlmeister diente. Einige Brüder ihrer gemeinsamen Loge sollen den Sohn schon als Nachfolger des Vaters im höchsten Amt gesehen haben, doch dies hätte wohl doch einen zu monarchischen Charakter gehabt. gleich seinem Vater hatte er den Beruf des Rechtsanwaltes ergriffen und diente ab 1930 als Vorstandsmitglied der Österreichischen Liga für Menschenrechte.
Großmeister einer neugegründeten Großloge
Am 5. November 1918 beschloss der Zentral-Ausschuss der Wiener Grenzloge die Gründung einer eigenen Großloge und damit die Loslösung von der Symbolischen Großloge von Ungarn. Einen Monat später fand eine provisorische Großversammlung in ritueller Form unter Hammerführung von Adolf Kapralik zur Gründung der Großloge von Wien statt, diese umfasste 1.044 Mitglieder in 14 Logen.
Am 23. März 1919 erfolgte eine Gemeinschaftsarbeit der Wiener Logen, bei der Richard Schlesinger die Position des stellvertretenden Großtempelhüters inne hatte und die „Wir und die Anderen“ betitelte Ansprache hielt. Gleichzeitig schränkte er ein: „Meine Worte werden kein Programm enthalten. Das Programm eines einzelnen ist ja von je, schon seit der Zeit der Gracchen, mit dem Makel der Phrase, des unerfüllbaren Versprechens behaftet. Ich möchte mich daher von diesem Fehler fern halten.“
Schlesinger verwies darauf, dass die Freimaurerei heftigen Angriffen ausgesetzt sei und dass sie nie aus den Augen verlieren solle, wie sie von ihrer Umwelt wahrgenommen werde und wie sie darauf reagieren solle. Hierbei meinte er die Pamphlete von Friedrich Wichtl, welche die Freimaurerei als Urheber des Weltkriegs verleumdete. Vor allem werde der Freimaurerei vorgeworfen, „daß sie insbesondere im Kriege vollständig versagt habe. Dass der letztere Vorwurf mit viel mehr Begründung alle anderen großen internationalen Organisationen trifft, soll nicht erst des näheren ausgeführt werden. Es ist bekannt, unter welchen geradezu unmöglichen Verhältnissen die Freimaurerei bis zur Republik bei uns gearbeitet hat; sie stand nominell unter dem Schutze der ungarischen Großloge, faktisch unter jenem der Polizeibehörden, auf deren Wohlwollen sie angewiesen war. Was sie unter diesen Verhältnissen trotzdem hervorgebracht hat, muss ich Ihnen, die Sie an diesem Werken mitgearbeitet haben, nicht schildern. Was aber das Verhalten der deutsch- österreichischen Freimaurerei im Kriege anbelangt, so ist ihr – vielleicht mit Ausnahme des ziemlich verunglückten Aufmarsches, den zu Anfang des Krieges unsere Logen mit ihrem Spendenausweise in den Wiener Tagesblättern unternommen habe – kein berechtigter Vorwurf zu machen. Dass die deutschösterreichische Freimaurerei während des Krieges zum Schweigen verurteilt war, hatte ja seinen Grund in der sattsam bekannten, im Kriege noch hundertfach verschärften österreichischen Willkür. Dagegen ist der österreichischen Freimaurerei manches gutzubuchen: Nie wurde aus einer Wiener Loge ein kriegshetzerisches Wort vernommen; gleich zu Anfang des Krieges haben zwei um die Wiener Maurerei hochverdiente Brüder (Dr. Alexander Holländer und Dr. Emil Frankl) über meine Veranlassung den Versuch unternommen, eine Verbindung mit den Großlogen unserer Gegner zu erlangen, um das Meer von Blut einzudämmen. Dass der Versuch misslang, ist wahrlich nicht die Schuld der deutschösterreichischen Freimaurer.“
Im Weiteren verwies Schlesinger auf Bruder Alfred Hermann Fried, der seit Beginn des Krieges verstärkt für den Frieden agitiere und „anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Freimaurerei in der Schweiz als einziger Vertreter der kriegführenden Völker in der Versammlung einer Schweizer Loge erschienen ist, und es ist erschütternd zu lesen, wie Dr. Fried in seiner damaligen Rede beklagen musste, dassß von Westen und von Süden keiner in die ausgestreckte Bruderhand einschlug. Hier muss offen gesagt werden – und auf diesen Punkt werde ich noch zu sprechen kommen – dass die Freimaurerei der Romanen sich von der in Deutschösterreich herrschenden Auffassung der Brüder über Freimaurerei weit entfernt hat, und es ist nicht zu verwundern, dass die prononzierte politische Stellungnahme der romanischen Freimaurerei denjenigen, die der königlichen Kunst von jeher gram waren, reichliche Nahrung für ihre Angriffe geboten, aber auch bei Unterfangen so viel Missverständnisse über uns und unsere Ziele hervorgerufen hat.“
Daher wäre es naheliegend, eine eigene Propagandatätigkeit zu beginnen. Man müsse sich vor allem an jene wenden, die guten Willens seien, an der Veredelung des Menschentums mitzuarbeiten. Dies solle durch literarisch wertvolle Broschüren, Zeitschriften und Vorträge erreicht werden. Dabei dürfe man aber nicht eine hymnische Apologetik der Freimaurerei verfallen, wie dies mitunter in Deutschland zu beobachten sei. Es wurde eine Kulturarbeitsstelle eingerichtet, welche die Verbindung mit den verschiedenen Kulturvereinen gewährleisten solle. Besonderes Augenmerk müsse der nach dem Krieg verwahrlosten Jugend gelten, daher gelte der Einsatz dem Erhalt von Wöchnerinnenheimen, Stillkrippen, Mutterberatungsstellen, Kindergärten, Ferienkolonien und Jugendheimen. Der Eintritt in die Logen müsse aber jedermann offen stehen, nicht nur den Intellektuellen und Bemittelten. Daher sprach sich Schlesinger auch für Berufslogen, insbesondere Arbeiter- und Bauernlogen aus. Es gäbe aber zu viele Gefälligkeitsaufnahmen von neuen Mitgliedern, die sehr oft nur aufgrund von Verwandtschaftsverhältnissen zur Loge kämen.
In Bezug auf die Frauenfrage äußerte Schlesinger, dass deren Anwesenheit in einer Loge zu Eifersüchteleien und Entfremdungen unter den Brüdern führen könne und dass seitens der Frauen nirgends ein Wunsch nach Aufnahme geäußert wurde. Abschließend thematisierte Schlesinger die internationalen Beziehungen: Bislang habe nur die Schweizer Großloge „Alpina“ die Beziehungen aufgenommen, die holländische würde sich als Vermittler gegenüber den Westmächten einsetzen, doch der Grand Orient de France habe sich bislang schroff ablehnend geäußert. „Die romanische Freimaurerei hat, – es kann dies nicht geleugnet werden – während dieses Krieges und vor demselben ein Verhalten bewiesen, das unseren Grundsätzen stracks zuwiderläuft. Nirgends war der Gedanke der allgemeinen Menschenliebe in den Äußerungen der romanischen Logen hervorgekehrt. Die italienischen und französischen Maurer wetteiferten miteinander in der Aufstachelung des nationalen Hassgedankens. Ob die Zukunft hier Wandel schaffen wird, bleibt dahingestellt. An uns soll es nicht fehlen, den Brüdern im Westen und im Süden, wenn auch mit schmerzlicher Resignation, die Hand zur Versöhnung zu reichen, bitten werden wir darum nicht.“
Zum Großmeister gewählt (mit einer Stimmenthaltung) wurde Richard Schlesinger am 31. Mai 1919. An darauffolgenden Tag fand im Militärkasino am Schwarzenbergplatz in einer Festarbeit vor 600 Teilnehmern seine feierliche Einsetzung statt. Am 26. Oktober 1919 lud die GLvW zu einer Werbeveranstaltung in den Großen Konzerthaussaal, wobei der Hauptredner Paul Kammerer auf ihre vielfältige sozialreformerische Tätigkeit verwies. Balduin Bricht hatte bereits zu Beginn des Jahres in einer Aufklärungsschrift über die Ziele der GLvW verfasst. Auch deren Statuten wurden publiziert.
Am Höhepunkt seines Wirkens
1925 hielt Schlesinger die Rede „Sechs Jahre Großloge von Wien“. Die dabei präsentiert Leistungsschau konnte sich sehen lassen.
„Bei mehreren Institutionen haben unsere Brüder Pate gestanden: ich nenne nur die ‚Bereitschaft‘, die ‚Ethische Gemeinde‘, die ‚Weltjugendliga‘. Vertreten war die Großloge beim Kongresss für den Weltfrieden (London 1922), dann beim Kinderfürsorge-Kongreß (Genf 1920). Auch an anderen kulturellen Unternehmungen, die der Förderung des inneren und äußeren Friedens dienen, nahm die Großloge Anteil, so an der Friedensgesellschaft, der Völkerbundliga, an dem ‚Freien Bund kultureller Vereine‘, an der Zeitschrift ‚Die Friedenswarte‘. Als die Wiener Universität in Not geriet, hat sich die Großloge, unbekümmert über die Gesinnung einzelner leitender Persönlichkeiten, spontan an der Sammlung beteiligt. Wir haben auch nicht beiseite gestanden, als eines der schönsten Bauwerke der Welt, die Stephanskirche, in Gefahr war. Und worauf ich besonders hinweisen möchte: wir haben auch an der Propagierung der großen paneuropäischen Idee des Dr. Coudenhove-Kalergi werktätig mitgewirkt.“
Schlesinger kann als treibende Kraft hinter allen diesen sozialpolitischen Aktionen bezeichnet werden, doch es gab auch dem entgegengesetzte Kräfte innerhalb der GLvW: „Es hat natürlich – ich darf das ganz offen aussprechen – innerhalb der Großloge auch nicht an gelegentlichen sogenannten ‚Reibungen‘ gefehlt – Reibungen wird es immer geben, solange es jüngere und ältere Brüder gibt. Wir haben es eben mit ‚Konservativen‘ und ‚Aktivisten‘ zu tun. Das klingt nach Kampf: In Wirklichkeit aber ist die Verträglichkeit zwischen den beiden Gruppen ganz ausgezeichnet.“
Ein ganz besonderes Anliegen war Schlesinger die Paneuropa-Bewegung Bruder Richard Coudenhove-Kalergis. Daher formulierte er einen Aufruf an alle befreundeten Großlogen, diese zu unterstützen. Schlesinger betonte auf der Jahresversammlung 1926 „die Notwendigkeit, diese pazifistische Arbeit nicht immer nur im Dämmerlicht der Logen, sondern in aller Öffentlichkeit zu leisten, eine Kundgebung, die spontanen, stürmischen Beifall auslöste.“ Auch verwies er auf die 1926 gegründete Österreichische Liga für Menschenrechte, die ein neues Betätigungsfeld böte. Diese war eine genuine Schöpfung Wiener Freimaurer um Bruder Rudolf Goldscheid, der seinerseits aber nicht der GLvW angehörte, sondern der Loge Ardens des Freimaurerbundes zur aufgehenden Sonne. Die Hälfte des Vorstandes war mit Freimaurern besetzt, doch die Erfolge blieben gering.
Richard Schlesinger trat selbst vor die Öffentlichkeit und gab der Wiener Allgemeinen Zeitung ein Interview, in dem er diese über die Außenarbeit der GLvW informierte:
„Es geschieht viel mehr aus unseren Reihen heraus, als man glauben möchte. In jeder Beziehung. Selbst die große deutsch-französische Annäherung im vergangenen Jahr ist zum nicht geringen Teil Verdienst der Freimaurerei. Ist Ihnen zum Beispiel bekannt, dass 317 Mitglieder des französischen Parlaments Logenbrüder sind? … Wir blasen nicht zum Alarm … Wir haben auch nicht die Absicht, uns mit unseren ‚guten Taten’ zu brüsten. Aber wir brauchen uns, in deren Reihen übrigens auch eine Menge wahrhaft fromme Christen stehen, durchaus nicht zu schämen.“
Im Dezember 1926 fand neuerlich eine Grossversammlung statt, bei der Schlesinger über „Unsere Einstellung zu den maurerischen Gegenwartsfragen“ sprach:
„Ich gestehe ganz offen, dass wir, seitdem die junge Großloge von Wien ins Leben getreten ist, viel zu oft nach den Sternen gelangt haben und dabei notwendigerweise oft Gefahr gelaufen sind, den Boden unter den Füßen zu verlieren.“ Erneut ging Schlesinger auf den andauernden Konflikt zwischen Aktivisten und Traditionalisten ein, zwischen denen er Ausgleich schaffen wollte. In der „Wiener Freimaurerzeitung“ (WFZ) heiße es, dass „zumal unter den jüngeren Brüdern der Hang zum Quietismus sich geltend mache.“ Diesen konzedierte er, dass „jeder Bruder, mag er seinem freimaurerischen Leben welchen Inhalt immer geben, uns ein treuer Helfer sein kann.“
Danach setzte sich der Großmeister mit der Frage auseinander, wer Freimaurer werden könne. Es sei in der Konstitution ganz klar gesagt, was von einem Suchenden zu erwarten sei. „Manche Logen setzen aber ihren Ehrgeiz darein, sogenannte Stars zu gewinnen. Ich bekenne, dass ich gegen dieses Prinzip bin. Nicht wegen der höheren Gagen, die wir zu bezahlen haben, wohl aber wegen der anderen mit dem Starsystem verbundenen Unannehmlichkeiten, die sich in den Logen nicht anders als in der profanen Welt zeigen. Ich bin schon deswegen ein Gegner dieses Systems, weil wir nicht notwendig haben, allzu bescheiden zu sein. Wir dürfen nicht vergessen, dass es die größte Ehre für den Suchenden sein muss, der Kette angehören zu dürfen; erst in zweiter Reihe muss es sich die Kette zur Ehre anrechnen, jemanden in ihre Reihen aufzunehmen.“
Besonders verweist er darauf, dass man einen Menschen nicht verurteilen dürfe, wenn er einmal in seinem Leben voller jugendlichem Ungestüm gestrauchelt sei. Zudem warnt er vor einem „Intelligenzdünkel“, es komme bei der Aufnahme nicht auf die kulturelle, sondern auf die Herzensbildung an.
Danach kommt er auf die Frauenfrage zu sprechen und verweist auf die zahlreich geäußerten Bedenken, dass bei der Anwesenheit von Frauen im Tempel „Eifersüchteleien, Unstimmigkeiten und noch ärgere Dinge sich in die Logen einschleichen würden. Demgegenüber habe eine Anzahl Männer, die Gäste einer in Wien existierenden loge mixte gewesen sind, deren Besuch die Großloge verboten hat, berichtet, dass von allen diesen Dingen in dieser loge mixte nichts zu sehen sei, und dass die Arbeiten der Loge sich auf ansehnlicher Höhe bewegen./ Ich glaube nun zwar nicht, dass heute schon ein Bedürfnis besteht, Frauen in unsere Reihen aufzunehmen, was ich aber bedauere, ist, dass wir, gefesselt durch internationale Verpflichtungen, nicht einmal imstande sind, uns zu erkundigen, wie es in dieser Loge aussieht, und dass, wenn wir es tun, wir ein Verbot verletzen, das die Großloge von Wien in Übereinstimmung mit ihren internationalen Verpflichtungen erlassen musste. Diese ganze Frage ist sicherlich heute noch keine brennende und sie wird es in-solange nicht sein, als die Frauen nicht selbst das Bedürfnis äußern, in unseren Reihen einzutreten; aber die Frage verdient, anders als es bisher geschehen ist, in unseren Logen behandelt zu werden. Mit allgemeinen Redensarten und mit Späßen kann sie nicht erledigt sein.“
Es gäbe einige Brüder, die kein rasches Anwachsen der Kette wünschten. Dem trat Schlesinger entgegen, gerade in Österreich sei eine starke Freimaurerei dringend notwendig. „Der Parteien Kampf hat hier Formen angenommen, die nicht nur den intellektuellen, sondern jeden anständigen Menschen schrecken müssen, da wäre es gut, wenn der freimaurerische Gedanke endlich ganz Österreich, wie die Gegner sich ausdrücken, ‚durchseuchte‘!“ Damit kam er auf die „Außenarbeit“ zu sprechen, In manchen Logen herrsche die Meinung, dass nur der ein guter Freimaurer sein könne, der sich auch draußen betätige. Demgegenüber zeigte aber die Erfahrung, dass wann immer die Großloge oder einzelne Logen ein Unternehmen gestartet hatten, sie erfahren mussten, dass es auf allen Gebieten schon weit größere und schlagkräftigere Organisationen gab.
Das Jahr 1928 brachte Feierlichkeiten zum 10-jährigen Jubiläum der GLvW, für die man sich in den Wiener Sofiensälen einmietete. Schlesinger gab in seiner Rede ein starkes Bekenntnis zur Staatsform der Demokratie ab. Dies schon deswegen, weil die Freimaurerei in der Monarchie zwar in Ungarn erlaubt und dort sogar ein ehemaliger Großmeister Ministerpräsident werden konnte, während sie in Österreich aber verboten geblieben und zudem sogar von Ministern geschmäht wurde. Dennoch heißt es: „Wir lieben diese Republik ohne auf die Gegenliebe seitens der regierenden Kreise Anspruch zu erheben. Denn die Binsenweisheit bleibt: Staatsform und Regierungspartei sind nicht identisch.“ Anschließend verwies Schlesinger auf die disparate Lage 1918: „Die Logen führten in Wien ein recht isoliertes Dasein. Jede einzelne Bauhütte war von der Unvergleichlichkeit ihrer Leistungen, war von dem außerordentlichen Wert ihrer Mitglieder überzeugt.“ Für viele Logen galt offenbar der fatale Grundsatz: „Außerhalb der eigenen Loge gibt es kein Freimaurerleben.“
Als äußeres Zeichen des Pazifismus erwähnt Schlesinger den Gedanken, ein Mahnmal für den unbekannten Soldaten zu errichten: „Es soll vielmehr hier in Wien ein Friedenstempel errichtet werden, der zum Wallfahrtsorte sämtlicher wahrer und begeisterter Friedensfreunde werden, der den Völkern aller Zonen ein weithin sichtbares Denkmal unseres unbeirrbaren Hanges nicht nur zum Frieden, sondern zur allgemeinen Menschliebe sein soll.“
Schon damals war die Frage nach der Politik in der Loge eine immer wieder gestellte, diesbezüglich äußerte sich der Großmeister: „Wir haben mit Vorbedacht unsere Satzungen dahin abgeändert, dass jede parteipolitische Erörterung aus unseren Bauhütten auch weiterhin ausgeschlossen sei; aber nirgends lässt sich, ohne dass das geistige Leben der Gefahr der Versumpfung und Verödung unterliegen würde, die Beschäftigung mit den Tagesfragen des öffentlichen Lebens und im weiteren Zusammenhänge, mit der Politik, vermeiden. Dies ist oft missverstanden worden, und es gibt auch in Wien noch Brüder, die entweder von der Angst oder von der Hoffnung beseelt sind, dass unsere Logen zu politischen Diskutierklubs werden wollen. Dem ist natürlich nicht so. … Die freimaurerische Beschäftigung mit den Tagesfragen soll dazu führen, das öffentliche Leben zu entgiften und auch zu beweisen, dass man über verschiedene Dinge von Mann zu Mann verhandeln kann, ohne den Vertreter gegenteiliger Anschauungen wörtlich oder tätlich zu beleidigen.“
Zum Abschluss seiner Rede schlug der Großmeister wieder nachdenkliche Töne an und sprach über die gegenwärtigen Situation in den Bundesländern und die Feinde der Freimaurerei: „Unser Anschauungen auch in der Provinz durch Bildung neuer Bauhütten hinauszutragen und zu fördern, ist unser unablässiges heißes Bestreben. Von den Widerständen, die dort der Errichtung freimaurerischer Stätten entgegengesetzt werden, vermag sich der Außenstehende gar keine, der Wiener nur eine bescheidene Vorstellung zu machen. Dass jeder Bruder draußen besorgt sein muss, die Zugehörigkeit zum Bunde mit seiner materiellen Existenz zu bezahlen, mag nur ein Beispiel von vielen sein. … Die Zahl unserer Feinde ist nicht kleiner, ihre Kampfmittel sind im Laufe der Jahre nur um weniges feiner geworden. Lassen wir uns durch die von unseren Gegnern aufgestellten These von unserer ungeheuren Macht nicht verleiten, an diese zu glauben. Seien wir froh, wenn wir uns und um uns ein bisschen Glück verbreiten können.“
Unter den Gästen dieser Festarbeit waren auch etliche Großmeister oder deren Stellvertreter befreundeter Obödienzen, darunter Arthur Groussier, Großmeister des Grand Orient de France.
1929 hob Schlesinger hervor, dass die Anerkennung der GLvW durch andere Großlogen stetig im Wachsen sei. Man habe sich durch die Qualität der Arbeiten in den Wiener Logen Achtung in aller Welt erschlossen. Danach spricht er über die „Alten Pflichten“, die nach den Zeiten der Religionskriege die Menschen wieder versöhnen sollten. Nun würden aber in Ergänzung dazu für die Gegenwart „Neue Pflichten“ anstehen, nämlich das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl an Mitmenschen zu erreichen. Daher müsse man sich auch Fragender praktischen Ethik zuwenden: „Das Problem der Arbeitslosigkeit und die wirtschaftliche und sittliche Entwurzelung von Existenzen, die Zunahme der Anzahl der lebensmüden und die Möglichkeit ihrer dauerhaften Rettung; die Stützung gefallener Existenzen, wobei der Frage der Sträflingsfürsorge besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden ist, das Problem des unehelichen, verlassenen, verwahrlosten, misshandelten und sittlich gefährdeten Kindes.“
Das wesentliche Problem bleibe aber die innere Befriedung des Vaterlandes. Jede Loge sei im Übrigen verpflichtet, zum Abschluss des Arbeitsjahres der Großloge einen Bericht darüber zukommen zu lassen. Die kulturelle und karitative Arbeit in der profanen Welt sei eine Pflicht für jeden Bruder, ebenso die Teilnahme an den nahestehenden kulturellen und Fürsorgevereinen. Diesen Arbeitsdienst zu organisieren, sei die wichtigste Arbeit eines Stuhlmeisters. Doch folgende Passage lässt vermuten, dass das Programm des Aktivismus immer weniger Anhänger fand: „und zum Schluss noch ein Wort über die sogenannte ‚kontemplative‘ Maurerei in unseren Logen. Es könnte den Anschein erwecken, als ob ich durch die Aufstellung des zur Tat aufrufenden Programms der kontemplativen (und zugleich konservativen) Freimaurerei das Zügenglöcklein läuten, sie für überlebt und abgetan erklären möchte. Wer mich und mein persönliches Verhältnis zu den Brüdern dieser Richtung kennt, weiß, dass dem nicht so ist. Wer in sich nicht den Beruf zum Wirken ad extra fühlt, der möge sich ruhig auf seinen maurerischen Dienst im länglichen Viereck beschränken. Keiner dieser Brüder wird aber, dessen bin ich sicher, zaudern, alle brüderliche Liebe und Freundschaft jenen unter uns, die das Leben unter die Räder geworfen hat, auch tätig zu erweisen. Ich werde mich glücklich schätzen, diese treuen Paladine unserer Königlichen Kunst, die ihr schon zu einer Zeit, als es noch eine Gefahr war, sich zu uns zu bekennen, mit reinem Herzen gedient haben, auch weiter in unserer Mitte wirken zu sehen. Sie alle erfüllen ja unbewusst denjenigen Teil unseres Programms der Außenarbeit, den ich nicht in Punkte und Paragraphen fassen kann, nämlich der Welt draußen das Bild eines Mannes zu zeigen, dem das Leben ein Aufstieg zu immer höherer Sittlichkeit ist.“
1931: Laudatio zum Siebziger
Im Jahr 1931 feierte Großmeister Schlesinger seinen 70. Geburtstag, wofür ihm eine liebevolle Laudation gewidmet wurde:
„Er war nie ein Stürmer und Dränger, sein Wesen atmet Bedächtigkeit. Aber jene Bedächtigkeit, die zu klarem Urteil auch in den schwierigsten Fragen führt, zu einer Entschlusskraft, die den wahren Führer kennzeichnet./ Die Großloge von Wien zu führen, ist leicht und schwer. Leicht darum, weil es sich um eine Brüderschaft handelt, die gewillt ist, im Grundsätzlichen ihrem Führer unbedingt zu folgen, der unbeirrbar den Weg zu gehen wünscht, den die ‚Alten Pflichten‘ dem Freimaurer vorzeichnen. Aber sie ist auch wieder schwer zu lenken, weil sie weit davon entfernt ist, ‚träge Masse‘ zu sein, weil in ihr das individualistische Moment stark hervortritt, weil die Logen ihren Ehrgeiz nicht darein setzen, kubische Steine zu sein, deren jeder dem anderen gleich ist, sondern im Gegenteil ihren besonderen Charakter, ihre Eigenart, auch im gemeinsamen Werk stets zur Geltung zu bringen./ Br. Richard Schlesinger weiß auf diese Eigenheiten liebevoll einzugehen. Was ihn dazu besonders befähigt, ist der Umstand, dass er sie alle kennt, denn er ist nicht ein Führer, der nur dann hervortritt, wenn es den Großbeamtenrat, die Bundesversammlung zu leiten, wenn es zu repräsentieren gilt; er ist wohl der fleißigste Bruder der Wiener Kette, der nicht nur in seiner eigenen Loge niemals fehlt, sondern auch keine Gelegenheit vorübergehen lässt, die anderen Wiener Bauhütten bei ihrer Arbeit aufzusuchen./ Es würde Br. Richard Schlesinger wenig angenehm sein, wollten wir hier sein ausführliches Charakterbilds entwerfen. Dies widerspräche der Bescheidenheit, der Schlichtheit, die ihn in so hohem Maße auszeichnen. Er ist Demokrat im besten Sinne des Wortes. Wohl weiß er seinen Willen zu betonen, sein auf dem maurerischen Grundgesetz aufgebautes Programm mit aller Entschiedenheit zu vertreten, aber er betrachtet sich nicht als Oberer eines Ordens, hierarchisches Freimaurertum ist ihm fremd; er will nichts anderes sein als der freigewählte Großmeister einer souveränen Bruderschaft. Darum hört er gern auf die Stimmen der Logen, darum schätzt er es besonders, wenn die Bauhütten nicht immer darauf warten, von der Großloge geleitet zu werden, sondern selbst alle Anstrengungen machen, um der Großloge neue Möglichkeiten auf ihrem Arbeitsweg zu weisen.“
1933: Österreich wird zur rechten Diktatur
1933 wurden in Österreich die politischen Parteien verboten und der autoritär regierte „Ständestaat“ errichtet. Auch das Auftreten des in der Wiener Gesellschaft weithin angesehenen Großmeisters Richard Schlesingers dürfte eine Auflösung der Großloge von Wien verhindert haben: So heißt es in der Prager Zeitschrift Lessing zu den drei Ringen: „Er verstand es, die österreichischen Regierungsstellen davon zu überzeugen, dass die Freimaurerei eine wohltätige und nützliche Einrichtung sei, die auch für den Staat von Vorteil und durch das Prinzip der Duldung und der Achtung von weltanschaulichen und religiösen Überzeugungen einen positiven Wert für das ruhige und sittliche Zusammenleben der staatlichen Gemeinschaft darstelle.“
1938: Einmarsch der Nazis
Für den 9. März 1938 lud Großmeister Schlesinger die Stuhlmeister aller Logen in sein Büro, um die politische Lage angesichts der von der Regierung Schuschnigg für den 13. März anberaumten Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs zu beraten. „Die Anregung, die österreichische Freimaurerei möge ihre helfende Hand bei der Vorbereitung der Abstimmung leihen, wurde von der Großloge strikte abgelehnt, sie hatte aber nichts einzuwenden gegen eine private Unterstützung durch einzelne Mitglieder.“ Für den 11. März war eine Versammlung der Großbeamten in der Dorotheergasse 12 anberaumt, die aber abgebrochen wurde, nachdem der Hans Schlesinger die Nachricht gebracht hatte, dass die Volksabstimmung abgesagt worden sei. Am 12. März 1938 schließlich besetzten deutsche Truppen um 5:30 Uhr die Grenzposten in Österreich und rückten sukzessive in die Landeshauptstädte vor. Bereits davor, um drei Uhr Früh wurde das Logenhaus in der Dorotheergasse 12 von einer Menschenmenge belagert, wovon der dienende Bruder Konrad Loch Großsekretär Misař informierte, der sich telefonisch mit dem Deputierten Großmeister Robert Pelzer beriet. Sie kamen überein, den Schlüssel zum Haus sofort bei der nächsten Polizeistation zu deponieren, damit das Haus nicht gewaltsam geöffnet werde. Am Nachmittag des 13. März erschienen sechs Gestapo-Beamte bei dem von seiner Krankheit stark gezeichneten Großmeister Schlesinger und befahlen ihm die Übergabe des GLvW- Vermögens. Aufgrund seines Leidens bat er Großsekretär Misař, an seiner Stelle diese Anordnung auszuführen und sich noch am selben Tag in der Schwindgasse 8 einzufinden. Da der dortige Hausbesitzer Parteimitglied war, fand Misař bei seiner Ankunft alle Türen geöffnet und die Räumung in vollem Gang, wie ein Zeitzeuge später berichtete: „Die Exemplare der Rituale, eine große Zahl von Briefordnern, große Schachteln Briefpapier und Kuverts, Bücher etc. waren auf dem Tisch, auf Stühlen und am Fußboden ausgebreitet. Daher schien sich eine formelle Übergabe zu erübrigen.“ Misař wurde von Kulturrat Leopold Schneider zu den Vermögensverhältnisse der GLvW und ihrer Tochterlogen verhört, über die österreichische Loge „Lux Orientis“ in Schanghai, die Beziehungen zur B’nai B’rith und – ob die UGL der GLvW in irgend einer Form zu Hilfe kommen werde. Danach musste Misař den Beamten in die Dorotheergasse 12 folgen und auch die dortige Kasse mit allen Geschäftsbüchern übergeben.
Für den 14. März hatte Großmeister Schlesinger die Stuhlmeister aller Logen zu weiteren Beratungen in sein privates Büro gebeten, doch das Treffen wurde wegen der zu erwartenden Verkehrsbehinderungen im Zuge des „Führerbesuches“ am Wiener Heldenplatz auf den 16. März verlegt – es sollte nicht mehr zustande kommen. Bereits am Morgen dieses Tages wurde Schlesinger in seiner Wohnung verhaftet und in eine Zelle im Gefängnis in der Elisabethpromenade gebracht. Auch die Stuhlmeister hatten an diesem Tag vor der Gestapo zu erscheinen und wurden bis in die Morgenstunden verhört, die Vorladungen waren von der Bundespolizeidirektion Wien ausgeschickt worden. Nun ging es um die Vermögenswerte der einzelnen Logen. Wie die Kommandoaktion am 16. März ablief, schildert Konrad Weil retrospektiv:
„Als im Jahre 1938 der Anschluss kam, war ich Sekretär und Schatzmeister meiner Mozartloge. Da die Stuhlmeister (als Präsidenten) und die Schatzmeister nach dem Vereinsgesetze polizeilich gemeldet waren, erhielt ich wenige Tage nach dem Anschluss von der Gestapo, die alle Stuhlmeister und Schatzmeister zugleich vorgeladen hatte, eine Aufforderung, um 2 Uhr in dem Logenhaus in der Schwindgasse zu erscheinen. Als ich in die Schwindgasse kam, standen unten vor dem Haus die großen Kommandowagen und in den Räumen waren alle Jalousien heruntergelassen und wir Stuhlmeister und Schatzmeister begannen die Ankunft der Gestapo abzuwarten. – So gegen 6 Uhr erschienen SA-Männer (…). Später kam die Gestapo und rief einen Bruder nach dem anderen hinaus. Doch keiner von den hinaus Gerufenen kam zurück. So gegen 10 Uhr abends wurde ich gerufen und wurde ‚verhört’. Es wurden Fragen über das Logenvermögen gestellt etc. aber auch was der wirkliche Zweck der Großloge sei und ähnliches. Und dann wurde ich in den großen Tempel geführt, wo auch die vor mir ‚verhörten’ Brüder saßen. Es wird mir unvergesslich bleiben, wie die neu hereingeführten Brüder ängstlich vermieden, den tapis, der noch immer mit den Lichtern in der Mitte des Tempels lag, zu betreten, und wie die SA auf dem tapis herumtrampelten. Spät nachts wurden wir nach Hause geschickt. – Am nächsten Morgen begannen die Verhaftungen der Brüder.”